Erdbeben der Eintracht – Berliner Maxim Gorki Theaters zum «Theater des Jahres» gewählt
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Welches Theater bitteschön hätte denn sonst den Titel «Theater des Jahres» verdient – wenn nicht das Maxim Gorki in Berlin? Unser Kritiker Tobi Müller findet: Die Entscheidung für die postmigrantische Bühne war alternativlos.
Gäbe es Theaterwetten, hätte man mit diesem Tipp nicht viel gewonnen. Das Gorki in Berlin ist Theater des Jahres. Wer denn sonst? Von den 44 Kritikern, die in der Zeitschrift «Theater Heute» ihre Höhepunkte nennen, stimmen deren 15 für die Berliner Bühne. Im streitseligen Kritikergeschäft ist das als Erdbeben der Eintracht zu werten. Üblicherweise fallen die Abstände zu den Zweit- und Drittplatzierten gering aus. Doch das postmigrantische Programm von Shermin Langhoff und Ko-Intendant Jens Hillje hat die Kollegen quer durch die Bank überzeugt.
Langhoff und Hillje starteten spät in ihre erste Spielzeit, aus Umbau- und Spargründen legten sie erst im November los. Und auch nach den ersten Premieren war das Rennen nicht entschieden. Alle schauten hin, wie Schauspieler mit Migrationshintergrund Tschechow spielten und ihre realen Biografien in der Kunst nachzitterten. Aber viele fragten zum Teil verärgert, ob postmigrantisch bedeute, dass ein Deutschtürke einen Deutschtürken zu spielen habe und seine Rollenvielfalt so eingeschränkt bleibe wie eh und je?
Regie führte Nurkan Erpulat, der mit «Verrücktes Blut» zwei Jahre zuvor im Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße einen Hit landete und das postmigrantische Theater ins Bewusstein setzte. Shermin Langhoff, die Ballhaus-Chefin, setzte auch deswegen zu einer Karriere an wie von der Garage zu Google: Die reichen Wiener Festwochen warben sie von der Quartierbühne ab. Langhoff sagte zu. Und wieder ab, als Klaus Wowereit sie für das Gorki-Theater wollte. Doch Google ist keine Garage, und das Gorki kein Kieztheater: Die Andersheit, die sich das Gorki auf die Fahnen schrieb, drohte im Dekorativen zu erstarren.
Doch das war nur die erste Begegnung mit dem neuen Publikum. Man stellte das Ensemble vor. Es war wie auf einer Party: Interessant wird es oft erst später. Im Gorki hat es geklappt: Die Wehleidigkeit der Ausgegrenzten, die in Wirklichkeit im Zentrum der Aufmerksamkeit standen, verschwand schnell. Die Themen wurden diverser, Kreuzberg war nicht mehr der einzige Bezugspunkt. Man sah einen Abend wie «Common Ground», ein Projekt über die Balkankriege, inszeniert von der Israelin Yael Ronen, mit und ohne Balkanhintergrund.
Man sah «Smalltown Boy» von Falk Richter und war froh, dass Männerbilder abendfüllend sein durften, die nicht mit interkulturellen Klischees zu tun hatten. Es wurde interessant, weil es kompliziert wurde. Städtisch, heutig, lustig und traurig. Und wer lange nach der Premiere in einer Vorstellung saß, merkte, dass sich diese Diversität auch im Publikum spiegelte: weder besonders alt noch nur jung, weder ausschließlich deutsch noch betont international. Das Publikum ist in erster Linie: zahlreich.
Dass das Gorki Künstler aus vielen Herkunftsländern beschäftigt, bleibt spürbar, aber es ist nicht mehr alleinherrschendes Thema, es wird, was es auch an andern Theater sein könnte: selbstverständlich. Statt um die Pässe der Eltern geht es vermehrt um die Kunst. Auch im Gorki.
Erschienen auf: Deutschlandradio Kultur, 30. August 2014