Spießer unter Strom
Der Regisseur Herbert Fritsch dressiert in der Volksbühne sieben Schauspieler mit Texten des österreichischen Schriftstellers Konrad Bayer zu wortakrobatischen Kapriolen. „der die mann“ handelt vom Stottern in Zeiten kollektiver Verdrängung – nicht nur im Österreich der Nachkriegszeit.
Manche Schauspieler, die später Regisseure werden, suchen das geheizte Gefühl und baden im Atmosphärischen. Das muss nicht gleich schlecht sein. Die holen halt nach, was ihnen lange verwehrt blieb. Jene aber, die besonders erfolgreiche Regisseure wurden, stellen nicht die Freiheit ihrer Spieler aus, im Gegenteil. Michael Thalheimer stellt seine Leute oft statisch auf die Bühne, die Sprache fließt in den kalten Raum. Buhuu, jedes Seelentheater muss da erfrieren. Und Herbert Fritsch stellt man sich immer mit dem Taktstock, ach: mit der Lederpeitsche hinter der Bühne vor. Seine Schauspieler, und es sind Schwergewichte dabei, sehen ein bisschen aus wie Herbert Fritsch selbst: unter Strom, die Silben gestanzt, die Körper gespannt. Thalheimer und Fritsch unterwerfen ihre Schauspieler gnadenlos – und werden von diesen geliebt dafür. Vielleicht beginnt die Freiheit erst nach dieser Unterwerfung, die nichts mit einer Folterkammer zu tun hat, sondern im Theater: mit Arbeit, Sorgfalt, Ernst. Okay, bei Fritsch wohl auch mit Drill.
Diese Freiheit, die mit der Knechtung verbunden scheint, erkennt man jetzt noch stärker als sonst bei Rittmeister Fritsch in der Volksbühne in Berlin, seinem alten Stall. „der die mann“ ist eine Collage von Texten des österreichsichen Schriftstellers Konrad Bayer, dem Kopf der Wiener Gruppe, die aus zu unterschiedlichen Autoren bestand, um immer Schablonen zu wiederholen wie Dada, Surrealismus, oder gar konkrete Posie.
Bayer, der sich 1964 mit nur 32 Jahren das Leben nahm, versteckt zu viel Handlung oder Anekdotisches in seinen wie gestotterten Texten, um Dada zu sein. Und dass die Materialität der Buchstaben selbst die Poesie ausmachen, in strengen Reihen und moderner Typografie, kam vor bei Bayer, war aber nicht die Regel. Die Dialektik von Hieb und Trieb ortet dieser Abend – überraschenderweise – in einer historisierenden Perspektive auf Bayer. Denn diese Dichtung liest Fritsch als Reaktion auf eine in Österreich besonders strenge geistige Enge der Nachkriegszeit. Die Wiener Gruppe schoss mit Buchstaben gegen eine bornierte Kulturschicht, die ihre Kollaboration vergessen wollte. Fritsch inszeniert das aber nicht so einfach, wie man das früher gehabt hätte.
Trüffelschwein für verborgene Beats
Die erste Hälfte des Abends stecken die zwei Damen und fünf Herren in Sixties-Anzügen und Kleidern aus Latex. Das Gummi flattert, in Orange, Rosa, Rot, Hellblau, Gelb. Herrlich, herrisch, oder doch unterwürfig? Im ersten Bild sind alle gefroren. Und wer nicht in der ersten Reihe sitzt, sieht Puppen, die Fratzen ziehen, und ist verblüfft, als das Tableau doch lebt. Das Bondage-Sadomasoparfüm von Victoria Behrs Kostümen bringt das Bild erst zum Schillern, weil durch diese autoritären, abschwaschbaren Bürger hindurch dann doch die Texte des wilden Wieners gepeitscht werden. Es sind somit immer alle ununterscheidbar präsent: Der Spießer und der Rebell, der Herr und der Knecht – und eben halt auch umgekehrt. Es ist eine Liebesgeschichte.
Neben der verloren auf der Riesenbühne stehenden Showtreppe gibt es einen übergroßen Schalltrichter in Gelb, der mitunter für Verstärkung sorgt. Aber die eigentliche Membran sind natürlich die Schauspieler, die Körper unter Strom. Zsss, tsch, drrrrr, zwei Oktavsprünge in einer halben Sekunde und ein Flug am Gummiband durch das ganze Bühnenhaus. Es ist Zirkustime in der Volksbühne, und für einmal ist das keine Metapher, in der, sagen wir – das Elend der Artisten sinnbildlich für den Postkapitalismus steht, das wir drei weitere Stunden um die Ohren gehauen kriegen. Nein, nein: Zirkus, Manege, Kunststücke. Und Musik!
Kapellmeister Ingo Günther ist ein Mann, der noch zu Neutönermusik mit offenem Mund grooven kann, auch in ungeraden Metren. Er ist ein Trüffelschwein für verborgene Beats . Mit zwei Perkussionisten und einem weiteren Mann an den Keyboards erfindet er einen Tingeltangel-Funk, der die Moderne kennt. Und jede Menge strengen Unsinn (streng ist eh alles: Ich möchte nicht in der Haut der Schauspieler stecken, die sich diesen vertrackten Unsinn merken müssen – und zwar so, dass es nicht wie vertrackter Unsinn klingt). Gerade die Mischung aus verfremdeter Kabarettmusik und Comic-Sounds ist zentral für die Fritschkunst, die zur Operettendiktatur tendiert, fast egal, wie die Vorlage ist. Rhythmus is King, Timing alles. Du, nein, darüber können wir jetzt nicht abstimmen.
Fußnote für den Herr-Knecht-Subtext
Bayer ist ein Lebensbegleiter für Fritsch, seit rund 35 Jahren beschäftigt er sich immer wieder mit ihm. Das merkt man. Weil er viel stärker als sonst daran interessiert ist, die Bedeutungen, ja die Handlung aus den vermeintlichen Nonsense-Texten rauszuholen. Manchmal trickst er, in dem er die Schauspieler jede Bedeutung übertrieben illustrieren lässt. Am Ende bleiben es aber doch Illustrationen, Verdoppelungen. Da schwächelt der Abend manchmal und man wünscht sich den anarchischen Fritsch, den Vorlagen nie bis zum bitteren Ende interessieren.
In der Hälfte gibt es einen kurzen Kostümwechsel. Erst kurz in Boxermäntel, kurz danach stecken sie aber alle in jenen legendären kragenlosen Anzügen, die die Beatles am Anfang ihrer Karriere getragen haben, zwischen 1963 und 1964. Auch die Pilzköpfe wurden historisch-kritisch rekonstruiert. Damit kriegt der Herr-Knecht-Subtext noch einmal eine hübsche Fußnote: Die Beatles wurden in diese Anzüge gesteckt, weil ihre Lederjacken nicht gut fürs Geschäft waren. Aber erst in diesen Uniformen entwickelten sie die Kraft für die sogenannte British Invasion.
Sicher, man kommt auch ohne Hegel und ohne Bondage durch diesen Abend. Vielleicht sogar ohne das period picture, wie man die historisch genau ausgestatteten TV-Serien wie „Mad Men“ oder „Boardwalk Empire“ nennt. Wird es dann flach? Nein. Der Erfolg von Fritschs Arbeiten beruht auch darauf, dass er eine Tradition jüdischer Komik aufnimmt, die sich in Deutschlands Hochkultur nach dem Holocaust kaum wieder aufgebaut hat. Es ist ein Humor, den die europäisch-jüdischen Flüchtlingen nach Kalifornien getragen haben, um die amerikanische Comedy neu zu erfinden. In Deutschland muss der Humor in der Hochkultur bitteschön auch einem „höheren Blödsinn“ entsprechen. Fritsch macht das ohne Doktortitel. Aber so dermaßen gründlich, dass man es doch wieder typisch deutsch nennen möchte – mit gezogenem Hut.