Olympische Kulturen
Das Festival/Tokio hat Ende 2013 die junge Leiterin entlassen und mit einem alten Funktionär ersetzt. Der Wechsel ist auch ein Wandel, hin zu kollektiven Entscheidungen, Crossover-Kunst und partizipatorischen Projekten. Was früher nach Avantgarde klang, ist heute als Weichenstelllung für die olympischen Spiele von 2020 zu begreifen, als Weg zur Re-Japanisierung der Künste. Dem westlichen Besucher kommt dabei vieles bekannt vor.
Mit der Eintrittskarte zum Theaterprojekt «The Cherry Orchard» erhalten die Besucher einen weißen Mundschutz. In Tokio sind diese Masken alltäglich, nicht nur in der Grippezeit und im Verkehr. Auffallend viele junge Frauen, aber auch Männer schützen sich damit – nicht nur vor Abgasen und Viren, sondern auch vor Blicken. Manche sparen mit der Maske auch das Make-up, wenn sie nur eben etwas einkaufen wollen in den Convenience Stores, die 24 Stunden geöffnet sind und im Abstand von 500 Metern die Stadt überziehen. Die Masken erinnern aber auch an die Katastrophe vom März 2011, als ein Tsunami die Insel erreichte und im Atomkraftwerk von Fukushima eine Kernschmelze auslöste. Nicht dass ein Mundschutz etwas gegen radioaktive Strahlung ausrichten könnte, aber wir sind an einer Premiere des Festival Tokyo, und da kann man auch mal von metaphorischen Requisiten ausgehen. Mundschutz, Strahlenschutz: Eine Renovierung von Tschechows Zukunftsangst, sein «Kirschgarten» dient hier nur als Thementapete. Mikuni Yanaihara, Text und Choreografie, zimmert aus dem alten Stück ein Einfallstor zu einem japanischen Debattenraum.
Es geht, allmählich, um ein aktuelles Politikum. Als Brillenträger muss man mit der Maske etwas üben, damit die Gläser nicht beschlagen und man klar sieht. Besonders im Freien, als das Publikum rund 30 Minuten vor dem Theater steht und drei verschiedenen Szenen zuschaut, die erhöht, gleichzeig und auf Japanisch gespielt werden. Ich weiche nicht von der Seite unserer Übersetzerin, die ein schönes New-Yorkerisch spricht. Die eine Schauspielergruppe redet darüber, dass man den Kirschgarten abholzen soll. Die anderen sind dagegen. Eine dritte Gruppe verhält sich gleichgültig. Schon bald wird der Kirschgarten zum olympischen Stadion von 1964, als Tokio zum letzten Mal die Spiele ausrichtete. Heute streitet man darüber, ob man den funktionstüchtigen und formschönen Bau bloß renovieren oder, wahrscheinlicher, abreißen soll. Denn 2020 stehen die nächsten Spiele in Tokio an, geplant ist ein Riesenkomplex.
Noch heute sieht man Tokio den Gestaltungswillen der 64er-Spiele an: Die vielen Autobahnen, die in großer Höhe mitten in die Stadt führen, hatten das Gesicht der vormals von Wasserwegen geprägten Metropole verändert. Diese Schnellstraßen und auch der Shinkansen, der hochmoderne Schnellzug, waren die Prestigeprojekte der Olympischen Spiele 1964. Welche werden es 2020 werden? Vermutlich etwas Immaterielles: Eine neue Kultur der Bürgerbeteiligung oder gar des Protestes, siehe Stadiondebatte, oder eine Neuausrichtung der Kulturförderung, die der Welt ein Update japanischer, ja panasiatischer Identität zeigen will?
Der japanische «Kirschgarten» am Festival Tokyo erschöpft sich rasch in seinen aktuellen Verweisen. In einer ehemaligen Turnhalle rennt das sehr junge Ensemble laut umher, vor allem im Kreis. Von einem internationalen Festivalniveau, das man von japanischen Produktionen kennt, ist das weit entfernt. Vielleicht geht es gerade darum: mehr japanische Fragen, weniger (westliche) Kunst. Die Masken übrigens, wie erst im Innern des Gebäudes klar wird, sollten vor dem Staub schützen, den das viele Laub aufwirbelt. – eine rein pragmatische Maßnahme. Oder ging es doch um Asbest? Denn wir sind im Nishi-Sugamo Arts Center im Nordwesten Tokios, in einer ehemaligen Schule, in der das Festival Tokyo auch seine Büros hat.
Wenn die Künste in Europa neue Räume suchen, gehen sie seit drei Jahrzehnten in leer stehende Fabriken. Weil die Industrie aus den Innenstädten ausgezogen ist. In Tokio findet man die Künste und Kreativindustrien zunehmend in renovierten Schulen. Kinder gibt es da keine mehr: Die japanische Gesellschaft ist geprägt von Geburtenrückgang und Überalterung. Von außen erkennt man die ehemaligen Schulen auch an den Sicherheitsnetzen, die den Sturz in den Suizid verhindern sollten – von Kindern, nicht Künstlern.
Die Aufgaben der Kulturschaffenden in den nächsten fünf Jahren könnten allerdings ähnlich belastend werden wie der Lernstress japanischer Schüler. Zumindest wenn es nach den Vorstellungen vieler Förderer geht, die zurzeit pausenlos von den olympischen Spielen 2020 in Tokio reden. Nach zehn Tagen in der japanischen Metropole auf Einladung der städtischen Kulturbehörde, nach vielen Vorträgen, Theater- und Konzertabenden, offiziellen wie persönlichen Gesprächen kann man die Sehnsucht klar benennen: In den Künsten soll Japan frei von europäischen Einflüssen präsentiert werden. Es geht um ein neues Selbstbewusstsein. Man kann vielleicht von einer Re-Japanisierung der Künste im öffentlichen Sektor sprechen. Zumindest ist das die noch reichlich vage Idee, die oft beschworen wird.
Insular will Japan aber nicht erscheinen, weshalb die Kulturpolitik viel Geld für Projekte mit südostasiatischen Partnern gibt, zum Beispiel mit Myanmar oder Thailand. Doch die Begriffe, die den kulturellen Aufbruch begleiten, sind dann doch wieder westlich geprägt: Die Verantwortlichen sprechen so oft von Partizipation und regionaler Kultur, wie man das in England auch getan hat anlässlich der Cultural Olympiad, einem Projekt, das gerade nicht nur die Spiele in London ins Zentrum stellte, sondern während vier Jahren im ganzen Land lief.
Das Festival Tokyo ist ein Versuchsfeld für diese kulturpolitischen Weichenstellungen im Vorfeld der Olympischen Spiele. Vor fünf Jahren ging das Festival der Darstellenden Künste von privater in städtische Hand über und erhielt seinen aktuellen Namen. Da liefen bereits die Vorbereitung für Tokios olympische Kandidatur, die jedoch erst 2011 an Fahrt aufnahm,. Im September 2013 erhielt Tokio den Zuschlag vom Olympischen Komitee. Das Festival war ein Kernprojekt, um die Kandidatur kulturell aufzuwerten, ein Schaufenster für die internationale Kulturszene, das die Programmdirektorin Chiaki Soma seit der Neugründung des Formats 2009 erfolgreich kuratierte. Kurz nach dem olympischen Zuschlag der Stadt allerdings wurde Soma entlassen (siehe Theater Heute 2/14). In den sozialen Medien hagelte es Kritik und auch Häme, besonders als klar wurde, dass die 38-jährige Soma nach ihrem Mutterschaftsurlaub durch den 64-jährigen Sachio Ichimura ersetzt werden sollte, der bis dahin dem Exekutivkomitee vorstand, einer Art Aufsichtsrat des Festivals. Die meisten traditionellen japanischen Medien schwiegen. Selbst die englischsprachige Japan Times beklagte das Desinteresse der Kollegen.
Erst seit ein paar Monaten lichtet sich der Nebel. Der alte, neue Leiter Sachio Ichimura sagt nicht im Detail, was zu Somas Rauswurf geführt hat, die er übrigens lange gefördert hatte in seiner Funktion als Festivalvorsitzender. Aber wenn man ihm eine Stunde zuhört, merkt man auch so, in welchem Kontext die Personalie steht.
Wir sitzen in einer Gruppe und warten auf Ichimura, in seinen Büros in der alten Schule gab es einen Rohrbruch, weshalb wir uns im Metropolitan Theatre treffen, wo andere Stücke des Festivals zu sehen sind. Etwa «Rites of Spring», wie der englische Titel für die Variation auf Tschaikowskis «Frühlingsopfer» heißt. Ichimuras Assistent erzählt uns zuerst die Geschichte des Festivals, bis Ichimura mit Verspätung und etwas verstrubbelt erscheint. Er ist ein Altlinker, der keine Sekunde wie ein konservativer Funktionär dasteht oder dastehen möchte. «Frühlingserwachen» sei ein gutes Beispiel für die neue Richtung des Festivals, das kollektive Autorschaften betone. So habe er die Choreografin Momoko Shiraga, die Künstlerin und Bühnenbildnerin Yuko Mohri und den Musiker Yasuno Miyauchi gleichberechtigt das Konzept entwickeln lassen. Wichtig sei auch, dass reale Objekte auf der Bühne zu sehen seien, so habe man keine Mühen gescheut, echte Lichtkandelaber aufzutreiben, wie sie seitlich von Stadtautobahnen stehen. Auch das Festival selbst werde in Zukunft von einem Kollektiv geleitet. Tatsächlich hat Ichimura den Begriff Programmdirektor gleich abgeschafft.
Spätestens jetzt stiftet eine kulturelle Differenz für Verwirrung. Denn die Figur des künstlerischen Leiters, gar des Intendanten, ist eine zutiefst westliche Idee. Was den Kulturprofis aus Beirut, Barcelona, Berlin und Co. in Tokio wie Avantgarde vorkommen mag – Leitungsteams statt Egospitzen, Künstlerhäuser statt Intendantenschlösser! –, wird in Japan als Rückkehr zu traditionellen Führungsmodellen verstanden. Auch das riesige Metropolitan Theatre mit seinen drei Theater- und Konzertsälen zum Beispiel hat keinen künstlerischen Leiter, sondern nur einen Vorsitzenden, einen Big Shot einer Brauerei. Das künstlerische Personal verteilt sich auf mehrere Posten. Man kann das demokratisch nennen oder darin die Verwässerung des Programms vermuten. Oder man fragt sich, wo Richtvorgaben denn herkommen, wenn nicht aus einer Hand aus dem Haus. Wird weiter oben entschieden?
Ichimura erzählt vom japanischen, ja generell asiatischen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Europa: «Wir haben zuviel gezeigt, was schon in Europa funktioniert hat». Damit formuliert er die konkrete Kritik an seiner Vorgängerin Chiaki Soma, die viel mit europäischen Festivals kooperiert hat. «In Europa funktioniert» meint zwei Dinge: Westliche Festivalproduktionen, aber auch japanische Arbeiten, die im Ausland erfolgreich waren.
Bedeutend wird die Kritik am urbanen, westlich orientierten Programm von Soma, weil sie nicht einen Einzelfall beschreibt oder in eine Generationen- oder Genderschablone gefasst werden kann, in der Art von alter Mann ersetzt junge Frau. Der Fall des Festivals Tokyo beschreibt ein ganzes kulturelles Klima. Denn so gut wie alle staatlichen Förderer verschieben den Fokus weg von Europa, hin zu südostasiatischen Partnerschaften. Als Europäer nickt man erst einmal gerne mit, denn man ahnt, dass die wirtschaftiche Dynamik in vielen asiatischen Ländern auch eine erhöhte künstlerische Produktion zur Folge haben muss, von der man aber noch immer wenig sieht. Und wer, wenn nicht Japan, sollte diese Tore zur Welt weiter öffnen helfen?
Doch wer genau soll diese Tore öffnen? Die staatlichen Förderer oder die weitverzweigten privaten, die in Japan noch einmal die gleiche Summe oben drauf legen wie die öffentliche Hand?. Fast alles, was wir in Europa auf Festivals aus Japan sehen, durchlief auch private Förderzyklen, die nicht ergänzend, sondern unabhängig von staatlichen Stellen agieren. Die Saison Foundation macht vielleicht das allerbeste Programm: viele Atelierstipendien, aber auch mittlere und lange, bis zu 8 Jahre dauernde Künstlerförderungen. Der Staat übernimmt eher Projektförderungen, die Privaten fördern länger. Welche Rolle letztere im olympischen Spiel übernehmen, ist noch unklar.
Interessant ist dass die Emanzipation von europäischer Kunst und die Asiatisierung ziemlich genau der aktuellen Außenpolitik des Landes entspricht. In Zeiten zunehmender Spannungen mit China orientiert sich Japan in Richtung Südostasien (zufälligerweise verlaufen auch die Transportwege von Öl entlang dieser Routen). Ichimura argumentiert dagegen historisch: «Wir waren die Kolonisierer in Asien», sagt er in unjapanischer Geschichtsoffenheit, «wir dürfen das nie vergessen.» Es gehe um neue Beziehungen, und man könne viel von Ländern wie Thailand lernen, die nie besetzt gewesen seien. Mit Myanmar, das ein Schwerpunkt des nächsten Festivals wird, gehe es dann eher um die Frage, wie mit dem Einfall westlicher Kultur umzugehen sei.
Die letzte Wolke ist verzogen: Das Festival steht vor seiner De-Europäisierung, und jetzt, wo die Austragung der Olympischen Spiele klare Sache ist, geht es weniger um urbane Internationalität als um Japan als treibende asiatische Kulturkraft. Das Problem ist zurzeit noch, dass sich niemand so richtig für diesen neuen asiatischen Identitätsraum interessiert. Das sieht auch Ichimura,: «Die Japaner wissen wenig über andere asiatische Länder, noch fehlt das Publikum dazu.»
Es gibt zurzeit in Tokyo viele Zeichen für ein verändertes Bewusstsein, was die künstlerischen Stammbäume angeht. Das Verhältnis zur europäischen Kunst wird auch in Institutionen neu begriffen, die außerhalb der Sphäre des olympischen Projektes stehen, zum Beispiel im privaten Mori Museum, gefühlte 50. Stockwerke über dem Boomquartier Roppongi Hills. Die Chefkuratorin Mami Kataoka führt uns durch die spektakuläre Schau über den taiwanesischen Künstler «Lee Mingwei and his Relations». Im Untertitel der Ausstellung steht schon das halbe Programm: «The Art of Participation – Seeing, Conversing, Gift Giving, Dining and Getting Connected to the World».
Es ist eine verspielte Art der Partizipation, man nimmt Blumen mit und schenkt sie Fremden, man näht, ein Wohnzimmer mit einem atemberaubenden Blick auf Tokio wird von Besuchern eingerichtet, und wenn man Glück hat, nimmt eine Sängerin einen an der Hand, setzt sich auf einen Stuhl und singt Schubertlieder für einen einzigen Zuschauer. Klingt nicht gerade super asiatisch. In der Mitte hält die Ausstellung aber inne und setzt die Kunst von Lee Mingwei in einen fernöstlichen, zen-buddhistischen Kontext, in dem der Akt oder die Handlung mehr zählt als die Idee eines Werks. Und jetzt werden zwei Helden der westlichen Avantgade kurzerhand zu Zen-Buddhisten erklärt, nämlich der 1962 jung verstorbene französische Künstler Yves Klein und der amerikanische Musiker John Cage.
Vielleicht ist das neue asiatische Selbstbewusstsein auch ein altes? Denn auch das gut ausgestattete, städtische Museum of Contemporary Art (MOT) zeigt eine Ausstellung mit dem Titel «Seeking New Genealogies», Neue Stammbäume suchen. Sie zeichnet Traditionslinien, die alte japanische Theaterformen mit zeitgenössischer Performance in Beziehung setzen. Nicht Europa ist der Stichwortgeber, sondern umgekehrt: Japan wird zum Geburtshelfer für die westliche Avantgarde. Was das Noh-Theater mit Performances japanischer Gruppen wie Chelfitsch oder Dumb Type verbindet? Chefkuratorin Yuko Hasegawa sagt: „ Alte Formen wie das Noh- Theater teilen Merkmale des Minimalismus mit modernen Gruppen wie Dumb Type, aber wir konfrontieren diese Werke nicht deshalb in der Ausstellung, weil wir eine direkte ästhetische Ähnlichkeit behaupten wollen. Vielmehr geht es darum, dass sie ähnliche Methoden benutzen, um zu ihrem Kern vorzustoßen.»
Als Berater für diese Ausstellung hat die Kuratorin einen Noh-Meister hinzugezogen, Nomura Mansai. Noh und auch Kyogen, das sind die komischen Zwischenspiele, gibt es seit über 600 Jahren, betont die Kuratorin. Und es ist erstaunlich, wie sehr der Minimalismus Japans den Blick auf westlichen Tanz und europäische Performance lenkt. Man schaut Noh-Videos und findet eine verwandte Ruhe im Tanz von Noa Eshkol, wie ihn Sharon Lockhart filmt. Man geht durch einen schlangenartigen Tunnel von Ernesto Neto aus durchsichtigem Nylon und kann sich nicht entscheiden, ob das nun streng oder sanft wirken soll, wie eine Geste im japanischen Puppentheater, dem Bunraku. Und man sitzt am Schluss wieder vor der 20 Meter breiten fiependen Videowand von Dumb Type, auf der irrsinnige Zahlenmassen zu alten Schiffahrtskarten morphen – Zahlen als Schriftzeichen, als grafisches Material.
Am Abend, im Nationaltheater neben dem Kaiserpalast, werden die Linien zwischen Westmoderne und japanischer Tradition noch einmal klarer. Wir schauen Kabuki, eine hochstilisierte Gattung, die historisch auf das Noh-Theater folgte. Wie die Gesten und die Sprache betont und zerdehnt werden, getrennt von der Geschichte: Das erinnert an den französischen Philosophen Roland Barthes, der 1970 in seinem Bestseller «Im Reich der Zeichen» von ähnlichen Dingen schwärmte. Jede Bewegung hat als eigenständige Geste ihren Wert, und muss nicht bloß Text verdeutlichen. Und die Männer, die hier Frauen spielen, stellen nicht einfach Frauen dar, sondern verkörpern sie. Die Pausen, die Posen, die berühmten Kabukischauspieler, die den Namen ihrer «Häuser» tragen, und der Hanamichi, der Laufsteg, der von der Bühne über die Zuschauer weg nach hinten rausgeht: Das alles erinnert verblüffend an die Subkultur des Vogueing, wenn schwule Männer in New York in Frauenkleidern Bälle feiern – auch dieser Männer stellen keine Frauen dar, sondern sind «real», wie sie sagen. Das ist zwar nicht Roland Barthes aufgefallen. Aber immerhin Madonna, die mit «Vogue» vor über zwanzig Jahren einen Hit hatte.
Beim Festival Tokyo sieht man aber noch andere «Trends», wie Sachio Ichimura sagt. Wichtig sei, ganz verschiedene Künste zu kombinieren. Was wir anderntags im bereits erwähnten «Frühlingsopfer» sehen, ist bestürzender Crossover, wie man in den Neunzigerjahren das interessantizistische Zusammenpappen mehrerer Kunsthandwerke genannt hat. Die Kandelaber auf der Bühne sind zweifellos echt, die Tierfelle wahrscheinlich auch, die das Opferlämmlein verfolgen, dazu immer wieder traditionelle japanische Kostüme. Das japanische Publikum schien konsterniert, einen kürzeren Applaus habe ich noch nie erlebt, vielleicht drei Sekunden.
Mehr Zuspruch erhielt das Project Fukushima, das auch zur Eröffnung des letzten Festival Tokyo noch einmal gezeigt wurde. Über ganz Japan und über die Welt verteilt, nähen Freiwillige aus alltäglichen Materialien zusammengesetzt Fahnen, die zurselben Zeit wehen sollen. Ein großer Erfolg. Auch im Vortrag des smarten Mitsuhiro Yoshimoto vom National Reseach Institute begegnen wir dieses Mischung aus regionaler Kultur und Bürgerbeteiligung immer wieder. Yoshimotos Institut ist dem «Selbst-Verteidigungsministerium» unterstellt, er arbeitet aber auch im Auftrag des Arts Council Japan, einer Behörde nach britischem Vorbild, die erst für die olympische Kandidatur gegründet wurde und die Kulturlandschaft Japans zunehmend prägt. Wir sehen Land Art fern von Tokio, Baumhütten und Bambushäuser, regionale Festivals, die alte rituelle Theaterformen weiterführen oder wieder aufnehmen. Das sieht alles toll aus, aber man wird auf eine Unterscheidung zurückgeworfen, die man schon fast überwunden glaubte: Ist das noch Kunst, oder nur noch Kultur zum Wohlfühlen?
Denn natürlich geht mit einer regionalen, partizipativen und darüber hinaus mit einer ostasiatischen Neuausrichtung der Kulturförderung auch ein Verdrängungskampf einher. Das Sound Live-Festival in Tokio könnte ein erstes Opfer davon werden. Sound Live zeigt experimentelle Konzerte, die eine kuratorische Handschrift tragen. Zurzeit jene von Tomoyuki Arai. Ein Abend kombinierte die brüchig gewordenen, alten Stimmen der Amerikanerin Kath Bloom und der Japanerin Reiko Kudo. Erst spielten sie jeweils alleine, dann in einem vorsichtigen Dialog. Für Männer gibt es viele Modelle, wie sie in der Musik altern. Für Frauen fast keine. Man hat mit Bloom und Kudo etwas gehört, was es sonst nicht gibt. Dass eine Folksängerin auf eine experimentelle Stimme traf, stand dabei nie im Vordergrund (das wäre Crossover gewesen: die Mischung betonen, den Inhalt verdrängen). Wunderbar, ungesehen, ungehört. Doch dem Festival wurde ohne Begründung die Hälfte des Budgets gestrichen. Im November hat Tomoyuki Arai für 2015 neue Anträge geschrieben. Bescheid kriegt er erst im März, also 5 Monate später. Dabei liegt in dieser Art von Kunst ein ethisches Potential, das man der Olympischen Repräsentationskultur auch mal wünschen würden: Sich zu begegnen, ohne sich gleich verständigen zu müssen
Die Olympischen Spiele von 1964 dienten dazu, 19 Jahre nach der Atombombe den Anschluss an den Westen zu schaffen. Mit Autobahnen und Zügen. 2020 wird es eher darum gehen, den kulturellen Absprung von Europa zu proben – und in einer asiatischen Idee zu landen. Dass das Festival Tokyo als Weichensteller dieser Route auch frühe Filme von Christoph Schlingensief zeigt, lässt indes wieder eine gewisse Zieltoleranz vermuten.
Erschienen in Theater Heute, Februar 2015.